lesenswert – Franz Werfel
Zwei Zitate aus meinem Lieblingsbuch,
„Der Stern der Ungeborenen“ von Franz Werfel.
Bitte diesen Roman nicht als Fiktion einer fernen Zukunft missverstehen.
Es ist eine für 1944 erstaunlich hellsichtige, satirische Sicht unserer Jetztzeit.
„Zwischen Weltkrieg II und Weltkrieg III drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Und sie nahmen das, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Und Humanität schien ihnen jetzt der bessere Weg zu diesem Ziel. Sie fanden diesen Weg sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenwahn … So wurden die Deutschen die Erfinder der Ethik der selbstlosen Zudringlichkeit. Und die Gebildeten unter ihnen hielten Vorträge an Volkshochschulen und in protestantischen Kirchen, wobei ihr eintöniges Thema stets der brüderlichen Pflicht des Menschen gewidmet war … Sie sind eben Schafe im Schafspelz. Da sie aber selbst dies krampfhaft sind, glaubt es ihnen niemand und man hält sie doch wieder für Wölfe.“
(aus Ausgabe 1946, 9. Kapitel ab Seite 202)
»Wer kann mir Urslers erstes grundlegendes Paradoxon nennen?« Einer der Antworter riß sich zusammen. Er konnte es und ratschte nach guter Schülerart: »Wenn die Energie eines Lichtgestirns größer ist als sie selbst, dann muß sich dieses Gestirn opfern, das heißt durch Glorifikation selbst zerstören.« Wenn eine Energie größer ist als sie selbst … Ich schloß die Augen, um nicht mehr die neunfache Sonne des Johannes Evangelist betrachten zu müssen. Ich stand in einer Glocke von flammendem Scharlach. Ich wußte nicht länger, wo ich war. Diese Worte aber, deren Sinn mir nach meiner Rückkehr nicht mehr so klar ist, damals verstand ich sie bis auf den berauschenden Grund. Wenn eine Energie größer ist als sie selbst, dann ist die Stunde des Opfers, die Stunde des Phönix gekommen, der sich in sich selbst verbrennt. Das Sonnenleben in seiner tiefsten Bedeutung ist ein Opferakt, eine ewige weltenernährende Liebeshingabe. Wenn eine Schönheit schöner, eine Liebe liebender, eine Kunst künstlerischer, eine Heiligkeit heiliger ist als sie selbst, dann ist der Augenblick des Wunders da … Inmitten des flammenden Scharlachs segnete ich Urslern, den gelehrten Mann, der lange nach mir dieses erste grundlegende Paradoxon formuliert hatte. Und noch mehr als den Mann segnete ich seine erhabene Erkenntnis, die ich als zukünftiger Mensch völlig begriff, jetzt als gegenwärtiger Mensch, da ich dies schreibe, nur zu begreifen ahne – jene grundlegende Erkenntnis, daß eine Größe größer sein kann als sie selbst. Damals jedoch in jener fernsten Zukunft, da ich auf dem Bleimeer des Johannes Evangelist stand, schwoll mir das Herz und mir war, als müßte ich zurückeilen zu meinen alten Zeitgenossen und ihnen diese Wahrheit mitbringen, die nicht nur für die Sonne gilt, sondern das heilige Gesetz des freiesten Sonnenkindes ist, der Menschheit.
(aus Ausgabe 1946, 13. Kapitel ab Seite 334)
Lesen am besten in einer frühen Ausgabe zum Beispiel von 1946. Damals wusste man noch, daß guter Schriftsatz das Lesen zur Freude macht. OM
Sehr geehrter Herr Müller,
auf welcher Seite der Ausgabe von 1946 finde ich dieses Zitat?
Mit freundlichen Grüßen
Franz Funnekötter
Vielen Dank für ihre Anfrage. Die Angaben habe ich im Blog ergänzt. OM